2021

Das Jahr, in dem ich in Rente ging.
Alles drehte sich: das Rad, mein Kopf, die Erde, die Sonne und die Galaxie. Was gestern war, nannte ich früher die Welt von Morgen. Das Leben ist ein vorübergehender Zustand, man kann doch das eine tun, ohne das andere zu lassen. Nun hänge ich am Tropf der Rentenversicherung und verprasse die Beiträge der Jugend. 
Den einen schlägt das Glück etwas härter, der andere bleibt davor verschont. Manche ertrinken im Glück, sie sehen es als normalen Lebensumstand, die anderen warten vergeblich darauf. Gibt es ohne Glück eine Pflicht zu leben? Wenn das Leben nur aus Pflicht besteht, ist das Glück der reine Zufall, und der Zufall kann alles bringen: Leid, Freude, Einsamkeit, Krankheit, und da es Zufall ist, kann man es sich nicht aussuchen. Man muss das Preisschild vom Glück entfernen.
Es ist wie mit einer Uhr: Wenn du keine hast, vermisst du sie nicht, wenn ja, schaust du dauernd drauf. Also nahm ich meinen Wecker vom Nachttisch, wickelte Alufolie drum, fuhr in den Wald und begrub ihn. Ich stellte noch ein kleines Kreuz auf. Somit war auch die Lohnarbeit begraben, ich sehe die Rente wie eine auf die Restlebenszeit garantierte Arbeitsunfähigkeitsbescheinigung. Auf Borneo, so glaubt man, können Orang Utans sprechen, aber sie tun es nicht, weil sie Angst haben, dass sie dann arbeiten müssten. Es wurde schon viel Unheil durchs Nichtstun verhindert. Meine 47 Jahre lang dauernde Reise im Lohndiktat war, genaugenommen, ohne Ziel, eher eine anthropologische Konstante, um den Status quo zu erhalten, sprich, um über die Runden zu kommen. Die Ausschweifungen, die ich mir erlaubte, blieben recht diszipliniert, und was ich bereue, sind jene Dinge, die ich NICHT gemacht habe. Ein guter Therapeut sagt nicht, sie müssen dies oder jenes tun, dann werden sie glücklich, er fragt: Was hat sie das letzte Mal glücklich gemacht?
Ein Rentner sagte: Ich stelle mir jeden Morgen den Wecker, stehe um 5 Uhr auf, trinke Kaffee in der Küche, und lege mich wieder hin. Für jede Gewohnheit kommt die Zeit, sie aufzugeben, solange man die Zeit hat. Einige Rentner fallen in tiefe Löcher, in Fallgruben der Automatismen, wo sie plötzlich feststellen, dass sie entweder schleunigst eine Leiter bauen müssen, oder über den Kopf eines Büffels geschleudert werden, den Schädel an dem Stamm einer Eiche geschlagen, und im Schlamm einer Latrine begraben sind, wo sie alle Tage und Nächte unglücklich, unzufrieden bis ans unselige Ende leben. Für mich will ich keine Prognosen aufstellen, sie sind immer dann gefährlich, wenn sie die Zukunft betreffen. Erscheint die Zukunft bedrohlich, flüchtet man in die Vergangenheit. Überhaupt, vielleicht ist nach meinem Tod einfach alles so, wie es vor meiner Geburt war?
Welche Klischees darf ich als Neurentner bedienen? Mich im Supermarkt vordrängen? Vor den Apotheken Schlange stehen, nachdem man Ärzte mit seinem Internet-Wissen über diverse Krankheiten terrorisiert hat? Steht mir ein beiges Jackett? Ein Hut, der in der Außenwahrnehmung zu einem Körperteil geworden ist, den ich auch im Auto trage, um als Privatier erkannt zu werden? Ein Rentner will nicht unbedingt mehr haben, ihm genügt, wenn der andere weniger hat, Zeit zum Beispiel. 
Das kulturelle Angebot für Senioren ist groß, denn 21 Millionen Konsumenten müssen verpflegt werden, und die ca. 100 Milliarden Euro, die der Staat an die Rentenkasse, und die Rentenkasse an die Empfänger überweist, müssen unter das Volk. Bis vor kurzem war der 15. mein Zahltag, jetzt hat er sich ans Ende des Monats verschoben, was mir die Gelegenheit böte, mich in die Schlange der Hartz-4-Kunden (weitere 3,6 Millionen) vor den Geldautomaten einzureihen. Ich blättere durch das neue Programm der VHS, in der Rubrik Kultur, dem zelebrieren des Nutzlosen, oder soll ich mich den sozialen Medien des Internets widmen, um in einem globalen Selbstgespräch wahrgenommen zu werden? Hier ginge der Erkenntnisgewinn exponentiell gegen Null. Das Leben läuft immer weiter, bis zum letzten Akt, wenn wir den Oszillograph für ein Neonlicht halten und verstummt den Wellen folgen, bis er selbst verstummt und nur noch eine Linie bildet. 

Autor