Keine Hochzeit auf Umwegen

“Ich glaube, die Braut macht einen Rückzieher,” sagte Jim und legte das Handy weg, als wir Sakhon Nakhon hinter uns gelassen hatten und auf der 2346 durch Na Wa bretterten.
“Du meinst, die Hochzeit fällt aus?”
“Sie ist zumindest auf unbestimmte Zeit verschoben.”
Eine Hochzeit in Thailand ist keine profane Sache, neben der Religion spielen Status und die damit verbundenen Dinge, die man zur Schau stellen kann, eine wichtige Rolle. Und nun? Jetzt hatten wir ohne Orientierung auch kein Ziel mehr. 
Jim drückte das Gaspedal bis auf den verrosteten Blechboden, ich hatte die Karte ausgebreitet und studierte die Landschaft. Es sah stark danach aus, als verließen wir soeben die letzte Zivilisation innerhalb der nächsten 100 Kilometer. Und der späte Nachmittag ist jene Zeit, die man zum Ausklang mit Speisen, Getränken und Müßiggang verbringt.
“Dreh um,” sagte ich, “lass uns in Na Wa stationieren.”
Der Wohlstand hatte diesen Fleck Thailands noch nicht erreicht und das einzige, was ich in englischer Sprache entzifferte, war das Ortseingangsschild. Hier ist nichts zu besichtigen, eine Langeweile der Ödnis, trotzdem kommt man aus dem Staunen nicht heraus: Holz und Blech, ein paar Steine mit Mörtel verbunden, kitschige Leuchtreklamen an den Häusern, die man genauso unbeleuchtet hätte lassen können, Müll, Papier und Plastik säumen eine staubige Hauptstraße von der Schotterwege abzweigen, etwas Lärm. Hier leben Menschen.
Obwohl Jim kaum schreiben kann, ist er wenigstens des Lesens mächtig, darum steuerte er zielstrebig ein Guest-House an, das von außen bereits die schrecklichsten Ahnungen weckte, die es von innen halten sollte. Übersetzt hieß die Kaschemme “Haus des guten Schlafes”. So eine Herberge betritt man nur sturzbesoffen und wenn man nicht weiß, dass hinter der Tür ein Räuber lauern könnte. Selbst für den Isaan, der auch das Armenhaus Thailands genannt wird, waren die 200 Baht pro Zimmer ein königlicher Preis. Wir hätten uns eine Brücke als Dach suchen können, die über einen schmutzigen Fluss führt, und uns auf eine duftende Grasnarbe legen und den Zikaden lauschen, es wäre billiger. Das Bett war eine alte Tür, auf vier Füße gesetzt und mit dünnem Stoff bespannt. Das Gemeinschaftsbad aller drei Zimmer, bzw. des kompletten Hauses, lag direkt neben der Küche und sah aus, als hätte man soeben einen Straßenköter zuerst gewaschen, und dann geschlachtet. Da westeuropäischer Standard hier kein Maß findet, würde ich dieses Guest-House als Privatpension mit unbedingtem Familienanschluss bezeichnen. Eine alte Frau kehrte Dreck und ein paar tote Kakerlaken aus dem Zimmer, in das wir rein sollten, dann bat sie uns in die Küche, an einen Plastiktisch mit Plastikstühlen und Plastikgeschirr. Auf dem Herd stand ein großer Topf, darin köchelte etwas, das einen seltsamen Geruch verbreitete, wie aus den Resten der vergangenen Tage gekocht – ein Armutszeugnis in Suppengestalt. Doch Hunger und Durst trieben uns nach draußen. 
Um Polizist zu werden reichen Beziehungen, Loyalität und eine mickrige, je nach Status abkürzbare Ausbildung. Und zwar in genau dieser Reihenfolge. Wenn Jim Strafzettel ausfüllte, schaute er vorher in sein Portemonnaie, musste er gar einen Bericht schreiben, überließ er es seinem Vorgesetzten. Jedes Polizeirevier behält 70 Prozent ihrer durch quittierte Verwarnungsgelder erwirtschafteten Einnahmen, die dann in Familien- und Sozialfonds fließen, so die offizielle Version. Inoffiziell wird das Geld bei jeden erdenklichen Betriebsfeiern versoffen, verfressen und verhurt. Was übrig bleibt, teilt man solidarisch untereinander auf. Natürlich werden nicht alle verhängten Geldstrafen quittiert, und oft ist es für den Touristen sogar vorteilhafter, wenn er ein Verwarnungsgeld als Bakschisch ansieht und gleich vor Ort hinblättert, im Wissen, einen anständigen Polizisten finanziell unterstützt zu haben, anstatt auf sein vermeintliches Recht zu pochen. Ist ein königlicher Beamter erst genötigt einen Bericht zu verfassen, und zwar auf der Wache, hat es stundenlange Wartezeiten zur Folge, weil entweder der nächste Vorgesetzte gerade zu Tisch ist, oder wie in Jims Fall, es an der schriftlichen Ausdrucksform hapert.
Jim spielt mir seine Armut ein wenig zu hoch, er fährt ein fast 20 Jahre altes Auto, hat fürsorgliche Eltern, einen Bruder als Freund und vertritt die staatliche Autorität. Er sagt: “Mein Wagen ist eine Schrottlaube, meine Eltern leben vom Ersparten ihrer dunklen Geschäfte und geben sich wie Snobs, mein Bruder ist dick im Drogengeschäft, und statt Polizist könnte ich ebenso gut an der Kasse im Supermarkt stehen.”
Na Wa, unbedeutend für die restliche Welt, ist ein kleiner Durchgangsort. Zwei genauso unbedeutende Menschen halten hier um zu übernachten, ohne eigentlichen Zweck, ohne genaueren Grund. Wir schlendern die Straße hoch und runter und stellen schließlich fest, dass es kein einziges annehmbares Lokal gibt, nur diese mit Planen oder Wellblech überdachten Fressstände, ausgerüstet mit wackligen Plastikstühlen und instabilen Tischchen, die kaum das Gewicht zweier Flaschen Bier und einem Kübel Eis aushalten. Jim ist frustriert. Nicht wegen diesem öden Nest, nein, solche Ortschaften kennt er zur Genüge, seine Laune ist deshalb miserabel, weil die Hochzeit nicht stattfindet, und er zurück nach Hua Hin muss, um seine Freundin entweder zu lieben oder zu verprügeln - je nach Laune seiner Eifersucht. Vielleicht nagen tiefere Gründe an ihm, denn als wir zur Vermählung aufbrachen, fuhr er mit grimmigen Gesichtszügen wie der Teufel auf der Jagd nach der Seele eines Heiligen, doch jede Verschiebung, die er per Handy von seinem Bruder mitgeteilt bekam, ließ ihn ruhiger werden. Wir hielten an fast jedem Ort, änderten spontan die Route, tranken schon am Mittag, schliefen bis Abends im Auto. Und so fort.
Na Wa, ein zweckmäßiges Dorf, aber nicht schön. Der teilweise mit Planen überspannte Marktplatz ist Sammelort aller in diesem Kaff vorhandenen Fliegen, Mücken, Hunde und Ratten. Die Händler schwitzen. Fisch, Fleisch, Obst und Gemüse gammeln vor sich hin. Der Preis für Getreide und Reis ist innerhalb eines halben Jahres um 15% gestiegen. 
Na Wa`s Zentrum ist gleichzeitig Peripherie und umgekehrt: staubige Lehmstraßen führen zu irgendeiner Ansammlung von Holzhütten die auf Pfählen stehen, nicht unbedingt, weil ein Fluss in der Nähe ist der zur Regenzeit steigen könnte, nein, dieser Baustil hat sich überall entwickelt, vielleicht, um die Aussicht zu genießen oder weil man unterm Haus das Moped und die Hühner trocken halten kann. 
“Ein schöner Anblick”, sagt Jim, und treibt einen Typen aus seiner Lethargie, der zur Straße starrt und keine eigenen Gedanken zu haben scheint.
“Na klar,” sagt der Typ, “ich bin in einer halben Stunde zurück.”
500 Baht wechseln den Besitzer. Jim und ich trinken Chang-Bier und warten. Nebenan wartet jemand darauf seine chinesischen Ventilatoren zu verkaufen. Er bietet auch Klimaanlagen feil, aber Ventilatoren sind nun mal billiger. Wir wissen, dass sich unsere Wahrnehmung in Kürze verändern wird, hervorgerufen durch gutes GRAS, während die Ventilatoren noch tagelang, Wochen oder Monate auf einen neuen Besitzer hoffen müssen.
“Wärst du alleine unterwegs, hätte dir der Kerl 1000 Baht abgeluchst und du würdest noch in einer Woche auf dieser Bank sitzen und warten,” sagt Jim, und kommt gleich auf die nächste Sache, “das Drogenproblem ist wie überall der Transport, auf dem Land ist das Zeug spottbillig, aber in Bangkok zahlst du schon den dreifachen Preis. Wer gerne ein Pfeifchen raucht, baut Opium oder Marihuana gleich hinter seiner Hütte an“, lächelt er, „wenn der Typ länger als 30 Minuten braucht, hab ich ihn in 60 Minuten aufgestöbert.”
Isaan hin, Isaan her, wer ein kleines oder mittleres Einkommen nachweisen kann, hat bei den Banken leichtes Spiel, sie vergeben Kredite nach höchst eigenartigen Kriterien, deren Zinsen oft nach den Wetterverhältnissen ausgehandelt werden. Man sieht zuerst den neuen Pick-up, damit ihn die Nachbarn sehen, und nicht die jahrelangen Ratenzahlungen, weswegen es mich nicht wundert, neben einer Bretterbude eine Karosse zu entdecken, die den zehnfachen Wert der Behausung ausmacht. Schulden bedeuten Konsum, und Konsum hält die Wirtschaft auf Trab. Das Leben ist schon hart genug. Wir jedenfalls erleichtern es mit ein paar Joints und einigen Gläsern Sang Som. Natürlich raucht unser Lieferant auch, er ist alt, aber nicht gebrechlich, er offenbart mit kerzengerader Statur die Trümmer einer dereinst schönen Gestalt, und erzählt von seinem Vater, der damals in Laos durch eine Landmine seinen rechten Arm einbüßte, er spricht über seine Frau, die vier Kinder und warum er es aus Na Wa nie herausgeschafft hat. Doch bald hat Jim keine Lust mehr mir das öde Dasein dieser Person zu übersetzen, er lässt ihn einfach reden. Ich beschränke mich darauf zu nicken. Vielleicht sagt er gerade im Thai-Lao-Gemisch: Ihr Ausländer kotzt mich an. Ich nicke. Weil das Leben auf dem Land sowieso langsamer vonstatten geht, spüre ich nun fast eine Art Stillstand, sehe einen roten Pick-up beim Ventilatoren-Geschäft halten, drei Personen steigen aus, vermutlich Wanderarbeiter, und hegen die Absicht einen Ventilator zu kaufen. Sie lassen sich sämtliche Modelle vorführen. So eine Investition von 600 bis 1000 Baht handelt man nicht kurz ab als würde man eine Wurst kaufen. Schließlich erstanden sie das Modell “Breezy” während einer halbstündigen Transaktion. Aber ich bin mir nicht sicher, denn langsam ist die Sonne hinterm Horizont verschwunden, sowie der GRAS-Lieferant, und Jim bekommt Appetit auf getrocknete Fischhäute, die ein fahrender Händler gerade anbietet.
Das THC hat sich längst unserer Körper bemächtigt, wir schlurfen rüber zum “Haus des guten Schlafes”, die Tochter serviert uns die Suppe, und Jim spricht von der verschobenen Hochzeit, der Vater kommt hinzu, die Mutter und der Rest der Familie. Ihre Gesichter strahlen voller schrecklich naiver Zuversicht – nicht jeder Tag gleicht dem anderen. Man glaubt es kaum.