Varanasi

Kalkutta liegt nicht am Ganges, Varanasi schon.
Varanasi gilt als Mekka des Hinduismus, als Stadt
des Gottes Shiva Vishwanath, Gläubige und
Touristen machen sie zu einem Hotspot der
Religion – wo alles bleibt, wie es war. 

„Varanasi – Endstation Ganges“ ist ein
Reiseinformationsbuch, Sach- und Tagebuch, eine
fotografierte Zeitspanne und der Rückschluss auf
kulturelle und religiöse Unterschiede zwischen
West und Ost. Susann Klossek, mit einem
dreimonatigem Stipendium ausgestattet, nutzt die
Zeit, um auch einen persönlichen Blick aufs
Umfeld zu verfassen, zum Beispiel über den
Gestank der verbrannten Leichen, die manchmal
halbgar in den Ganges gekippt werden, die
Lautstärke der Stadt und den völlig
unkontrollierten Verkehr – die Straße mit einer
Kuh zu überqueren, sei am sichersten.

Das Rom Asiens ist Sündenpfuhl, tief religiös und
Kommerz. Sein und Schein. Die Autorin meint, sie
habe keine dreckigere Stadt gesehen. Dabei hat
sie einiges von der Welt gesehen und weiß, wovon
sie schreibt. So räsoniert Klossek über das im
Straßen- und Stadtbild allgegenwärtige Schmutz-,
Lärm-, Verkehrs- und Abfallproblem in Indien:
„Trotzdem sind das ganze Elend und Dilemma mehr
als offensichtlich. Wenn ich süße Ferkel
fotografiere, komme ich nicht umhin, die
Müllberge, auf denen sie herumtapsen, mit
aufzunehmen.“

Auf den ersten Schock folgt die Überwindung des
Ekels, wer nicht nach drei Tagen wieder abreist,
muss sich arrangieren. Heilige Kühe, das
Kastensystem mit den Unberührbaren sowie der
Minderwert des weiblichen Geschlechts: Indien,
die größte Demokratie der Welt, steckt in den
Zwängen einer 2500 Jahre währenden Kultur. Was
den Westeuropäer in Erstaunen, Schrecken und
Unverständnis versetzt, ist hier ein monotoner
Alltag, in „der heiligsten Stadt Indiens befindet
sich der zweitgrößte `Fleischhandel` auf der
Welt.“ Deshalb berichtet Klossek auch über die
Kinderprostitution und den Stellenwert der Frau
im Allgemeinen.

Als Stipendiatin im Alice Boner Institut
untergebracht, erfahren wir die Umstände ihrer
Behausung: karg, laut. Gegen den Dreck kommen die
beiden Putzjungs nicht an, einer „setzt das Bad
mit dem Schlauch zum Kacke wegspritzen einmal
komplett unter Wasser, wischt hurtig einmal um
Bett, Tisch und Stuhl und stellt den Ventilator
auf die höchste Stufe, sodass alles auf dem
Tisch, was nicht niet- und nagelfest ist,
davonflattert.“ Der andere „fährt mit dem
Staublappen halbpatzig übers Geländer“. Natürlich
muss sie, bei der Ankunft der Gefolgschaft des
Schweizer Botschafters, der dem Institut einen
Besuch abstattet, ihr Zimmer für den Kurator
räumen. Es wird noch etwas mehr improvisiert.

Das langweilige Institutleben, der fehlende
Komfort, sei es ein funktionierendes Internet,
und der Versuch kreativ zu sein, fordert die
Autorin, sie schaut, was es zu sehen, lernen,
hören, essen und trinken gibt, aber beim vögeln
wird sie nie fündig, obwohl nicht alles
geschrieben steht, was sie intimsterweise
erlebte. „Varanasi ist etwas für echte Asketen,
für Esoteriker und Leute, die sich für spirituell
halten, wenn sie seltsame Rituale vollziehen,
deren tiefere Bedeutung sie nicht kennen und
deren Sinn, insofern es einen gibt, sich ihnen
nicht erschließt.“ Also nichts für Klossek.
Sollte man meinen. Doch gerade diese Diskrepanz
zwischen Schweiz und Varansasi erklärt sie mit
ihrer Gabe, das Unbekannte nach Wert zu
analysieren, und bei allen täglichen
Schwierigkeiten hat sie sich eingelebt und mit
der Stadt angefreundet. Es ist weder ein
Liebesbuch, noch ein Hassbuch an die Stadt.
Nehmen wir einen Satz aus dem Klappentext, der
schlussfolgert: „Ich stieg aus und trat in einen
Haufen Kuhscheiße. Ich war angekommen.“

Varanasi – Endstation Ganges
Susann Klossek
freiraum – verlag
112 Seiten, Taschenbuch, 14,95 Euro