Zwischenbilanz

Ich kann nicht anders, ich bin allem verfallen
was mich betört. Das ist allerdings in weiter
Sicht gemeint, denn die Betörung greift um sich,
sie fasst eine Menge, wie zum Beispiel
Glück/Zufall, die Umstände von Zeit und Ort, die
familiären Verhältnisse, vielleicht die Gene. Wie
es sich für alte Männer gehört, ziehe ich eine
Zwischenbilanz:

Heiliger Bimbam, ich habe mich einfach so durch
die Jahrzehnte geschlingert! Die typischen Hochs
und Tiefs, aber ohne wirkliche Dramatik, es sei
denn, ich hab`s nicht mitbekommen. Manchmal denke
ich mir andere Zeiten aus, in denen ich hätte
geboren werden können. Als einer im
wehrpflichtigen Alter während des Ersten oder
Zweiten Weltkriegs? Abgehakt. Vermutlich schon
einen Tag nach Kriegsbeginn von einem Sniper
abgeknallt. Interessanter wird es, Jahrhunderte
oder Jahrtausende zurück zu gehen. Am liebsten
gehe ich so weit in die Vergangenheit, als es den
Menschen noch gar nicht gab. Dann wäre ich in
zweifacher Hinsicht einzigartig. Und sobald ich
einen Wodka zu viel intus habe, maße ich mir die
Reise bis zum Beginn des Universums an. Aber
erwarten Sie nicht, dass ich im Vollrausch die
Urknall-Theorie herausfinden möchte. Wie lebte es
sich in den verschiedenen Epochen? Wo war es wann
am angenehmsten, und wer hätte man sein müssen?
Sicher, das Sperma meines Vaters löste den Impuls
meines Lebens aus. Man kappte die physische
Verbindung zu meiner Mutter, ab dann entwickelte
ich langsam das, was man als Bewusstsein
bezeichnet. Da ich vor den veranschlagten neun
Monaten raus wollte, zwei Monate früher, hätte
man mich im Mittelalter in den Schweinetrog
geworfen – als Totgeburt. Aber 1959 gab es schon
Brutkästen. Evolutionsbiologisch war die Sache
ineffizient, die Natur päppelt nichts auf, sie
schleppt niemanden durch. Wenn es vereinzelt
geschieht, dann bei sozial lebenden Säugetieren,
aber in einer strengen Hierarchie – auch dort ist
der Benachteiligte am Rande und höchstens
geduldet.

Die Zwischenbilanz sieht also gut aus. War ich je
im Leben ernsthaft krank? Nein. Nicht ernsthaft
sind Arm- und Beinbrüche, Prellungen,
Erkältungen, leichte Gehirnerschütterungen, ein
bisschen am Rücken und Knie und Fuß. Nein,
ernsthaft krank war ich nicht. Ich erfuhr auch
keine psychische Gewalt, ausgenommen der, die das
Schulsystem bewirkte. Lust am Lernen? Keine Spur.
Niemand vermittelte mir Lust am Wissen, und das
Umfeld war mit sich selbst beschäftigt, man baute
ein Haus, pflegte den Vorgarten und sein Image.
Es war der Eintritt des Vertriebenen in die
Arbeiterschicht. Mein Kleinkinddasein verbrachte
ich bei Tanten, und als ich mich quasi selbst
erkannte, so mit 3-4 Jahren, als ich wusste wer
ich war, hatten wir bereits eigene Wände um uns.
Kein Krieg, keine Hungersnot, stattdessen die
Sättigung der Nachkriegsära. Zum eigenen Haus kam
noch das erste Auto meines Vaters, die ersten
Urlaube. Die Studenten der 68er ebneten mir den
Weg, Mitte der 70er war ich freier als sie es
sich je vorgestellt hatten. Und das, ohne Steine
zu werfen oder auf die Straße zu gehen. Wäre ich
nur 10 Jahre früher oder später geboren worden,
hätte das meinen Lebenslauf erheblich verändert.
So ging ich in einer Zeit von Job zu Job, in der
man von Job zu Job gehen konnte. Geld war
entweder im Portemonnaie, oder als Debetsaldo auf
dem Konto. Der rote Faden meines Lebens zog sich
durch Glück, Umstände und Zeit. Bis heute.

Vor allem betört mich das Verhalten und Denken
mancher Menschen, wie sie in gewissen Situationen
handeln, wie sie planen. Das stelle ich mir dann
gegenüber und vergleiche. Wäre, hätte, könnte,
das Konjunktiv wird beansprucht.
Statt betören, sollte ich eher faszinieren sagen,
aber ich habe keine Lust die erste Zeile zu
ändern und weiß gar nicht mehr, warum ich das
hier schreibe.