Tootsie`s Orchid Lounge

Die ehrwürdige Kaschemme von Nashville

Durch reinen Zufall strandete Hartmuth Malorny
1979 in einer seltsamen Musikerkneipe in
Nashville. Einen ganzen Tag verbrachte er in
Tootsie’s Orchid Lounge, betrank sich und spielte
mit der Juke-Box. Erst am Ende begriff er, dass
er in der legendärsten Bar der Country-Musik
gelandet war.

High Noon in Midtown Nashville. Der Broadway ist
breit und leer. Das Mekka der Countrymusik
erscheint Sonntagmittag wie eine verlassene
Stadt, denn Nashville ist außerdem der U.S.
amerikanische Ort mit den meisten Bibel-Verlagen.
Ich stoppe vor einer roten Ampel und sehe einen
bärtigen Typ, wartend, mit kargem Blick und
Gitarrenkoffer vor der verschlossenen Tür einer
Kneipe. Tootsie`s Orchid Lounge, lese ich. Aus
Langeweile fahre ich um ein paar Blocks, eine Art
ödes Sightseeing, dann ist der Typ weg und das
Reklameschild im schmutzigen Fenster leuchtet und
blinkt rot, gelb, grün. Ich parke direkt vor der
Tür.

Wir schreiben das Jahr 1979. Der gewöhnliche
Geruch von kaltem Zigarettenrauch und
abgestandenem Bier liegt auf purpurfarbenem
Interior, das alt, dunkel und ungewaschen seine
Gäste empfängt, die selten einen besseren Anblick
bieten. Ein mürrisch ausschauender älterer Kerl
zapft das erste Bud. Für sich selbst. Dann kriegt
der Typ mit dem Gitarrenkoffer eins. Erst dann
werde ich gefragt. An den Wänden hängen
verstaubte Banknoten, billig gerahmte
Photographien und Postkartengrüße von Musikern
und Sängern, die hier ihre Tristesse vertranken.
Willie Nelson, der die Rechte an seinem Hit
„Night life” für ein altes Auto eintauschte, um
nach Nashville zu kommen, schrieb dereinst, vom
Ryman-Auditorium seien es „17 steps to Tootsie`s
and 34 steps back”.

Die Jukebox schluckt noch Dimes und Quarters, und
keine Ein-Dollar-Scheine. Ich drücke die
Klassiker der C&W-Musik, deswegen bin ich hier,
und um mich zu betrinken. Der Wirt, ein
korpulenter Cowboy mit speckiger
Lastwagenfahrerjacke, denkt, ich sei auf der
Durchfahrt und werde gleich wieder verschwinden,
und als sich die Nadel der Jukebox knisternd auf
die aktuelle Single von Waylon Jennings senkt,
Lonesome, on`ry and mean, nickt mir der
Gitarrenkoffer-Typ zu. Erst drei Bud später ist
das Interesse des Wirtes so groß, dass er wissen
will woher ich komme, weil er meinen Akzent nicht
zuordnen kann: „Wisconsin?”
Er muss mich beim Einparken durch die
nikotingelben Fensterscheiben beobachtet, und das Nummernschild des Mietwagens gelesen haben.
Deutschland klingt ihm ein wenig suspekt, ich bin
ihm zu jung und sehe nicht verrückt genug aus,
aber als ich Johnny Cash erwähne, zeigt er sich
umgänglicher, und auf die Frage, wo denn was los
sei, sagt er: „We are in the Bible belt, nothing
opens until morning service has finished.“ Und
wissentlich, was ein Ausländer hören möchte,
nämlich Geschichten, und weil so viele schlechte,
und ein paar gute Anekdoten über die hier
eingekehrten Songwirter kursieren, zitiert er
Bobby Bare, dem diese Liedermacher-Präsenz auch
aufgefallen war: „Wäre damals eine Bombe in
Tootsie`s explodiert, hätten die Plattenbosse
Schwierigkeiten mit guten Songs gehabt. Für eine
Weile.
Um 3 beginnt die Show”, fügt er hinzu.

Es gibt keine richtige Bühne, nur eine
reservierte Ecke mit einem leeren Barhocker und
einem kleinen Verstärker. Der bärtige
Gitarrenkoffer-Typ, der seine Gitarre
mittlerweile ausgepackt, an den wackligen Ständer
gelehnt und am Miniverstärker angeschlossen hat –
ein halbes Dutzend Bud im Bauch, reicht mir die
Hand: „Germany, fein, ich bin Jimmi Deene.”
Gib dem Mann ein Bier”, sage ich zum Wirt.
Jimmi ist einer der vielen Träumer die glauben,
wenn sie es bis hierhin geschafft haben, sei die
Bühne der Grand Ole Opry und der Ruhm nicht weit.
Nashvilles Musikindustrie lebt von diesem Traum,
beinahe täglich strandet ein alter Chevrolet mit
einem jungen Talent hinterm Steuer in den
Ausfallstraßen, das Auto wird tage- wochen- oder
monatelang sein Zuhause, er wird von den Agenten
der Plattenlabel entweder entdeckt oder
ausgenommen, aber die meisten fahren wieder
zurück aufs Land.

Um halb Vier p.m. kommen ein paar unrasierte
Cowboy-Rentner und langhaarige Freaks rein,
einige mit breitkrempigem Hut, vermutlich Texaner
Art, dazu Frauen wie sie Curd Jürgens besang,
also Kaschemmen-Lillies, und Jimmi Deene stimmt
seine Gitarre, das heißt,
er zupft die Saiten und
tut professionell. Der Koffer liegt geöffnet auf
dem Boden, wie es bei Straßenmusikern der Fall
ist. Er stellt einen zweiten Barhocker neben sich
und darauf ein Halb-Liter-Glas Bier.
Fünf Uhr, die Show beginnt. Nach jedem Song
tippen die Rentner und Freaks lässig an ihre
Hüte, nach Texaner Art. Sie unterhalten sich die
ganze Zeit über Hoffnung, Illusion und eine
Vergangenheit, aber ich verstehe ihren
Südstaatenakzent so schlecht, und die
Vergangenheit schon gar nicht, für mich ist das
Geschehen Gegenwart sowie einige Blicke der
Frauen, hör mal, sagen sie und legen los: „Für
Nashville brauchst du einen Hut, Cowboystiefel,
Jeans, eine Gitarre und den richtigen Song. Gibst
du einen aus?“
Dann erzählen sie von Tootsie Bess, und nennen
sie „Mutter der Nation“, bzw. Mother superior,
die wirklich jedem Gestrandeten eine heiße Suppe
und ein kaltes Bier spendierte sowie Kredit
gewährte.

Gegen 7 Uhr ist Jimmi Deene betrunken, er
stöpselt die Gitarre raus, packt sie in den
Koffer und geht mit seinem Hut rum. Ich lege zwei
Dollar rein. Deswegen, und weil ich selber
betrunken bin, setzt er sich neben mich und
erzählt. Er habe letztes Jahr eine Single
veröffentlicht, sie sei in der Jukebox. Dafür
wollte der Wirt 10 Dollar Gebühr. Das Geschäft
sei eben hart. Seine Gage betrage dass, was er
aus dem Hut hole. Auch Jimmi ist der Inbegriff
einer Faszinationswelle, des Mythos Countrymusik,
des Mythos Nashville. Als er vor fünf Jahren aus
Franklin/Louisina herkam, schon 30-jährig, war
Tootsie Bess seine erste Station, „diese stets
lachende Frau, beleibt und bebrillt“, sie habe
ihn aufmerksam gemacht, doch geholfen habe es
nicht, noch nicht, betont er.
Nächsten Monat mache ich eine neue Single”, sagt
Jimmi und verschwindet.

Heute gleicht Tootsie`s einer
Touristenattraktion, wie der Ballermann auf
Mallorca. Rent Tootsie`s for your event! Get
Tootsie`s stuff! Heute benutzen Kid Rock, Billy
Arnold, Leslie Craig und Tim Gore, um einige
Namen zu nennen, dieses Lokal zum Zweck der
Publicity, weniger wegen der Gage, und Terri
Clark weist in ihrer Biographie gerne darauf hin,
dass sie hier 1987 mit einem Tagessalär von 15
U.S.Doller anfing.
Tootsie`s hat sich dem Kommerz genauso gebeugt
wie die ehrwürdige Grand Ole Orpy im Ryman
Auditorium, die 1974 ins Opryland umzog – gleich
neben ein Einkaufs- und Hotelkomplex namens Opry
Mills.
Anfang der 1990er Jahre, als sogar Stars wie
Johnny Cash und Waylon Jennings in eine
kommerzielle Krise gerieten, weil neue Sterne mit
moderner Countrymusik den Himmel eroberten, stand
auch das Tootsie vor dem Aus, und es war ein
gewisser Steve Smith, der das Etablissement 1993
aufkaufte und ihm Modernität einhauchte.

Als Hattie Louise „Tootsie” Bess den Laden 1960
eröffnete, noch unter dem Namen Mom`s, engagierte
sie zuerst einen Maler namens Tootsie, um die
Räumlichkeiten neu zu streichen, pink, purple im
Orchideenfarbenstil, und so war der neue Name
geboren: Tootsie`s Orcid lounge, und ab da
verkehrten Kris Kristofferson, Faron Young,
Willie Nelson, Tom T. Hall, Hank Cochran, Mel
Tillis, Roger Miller, Webb Pierce, Waylon
Jennings und Patsy Cline wie gewöhnliche Gäste,
sie nahmen vor oder nach ihrer Show im Ryman ein
paar Drinks mit ein paar Joints, oder trafen sich
zu einer Session im Hinterzimmer, heute sind die
meisten längst tot, die anderen nahe dran.
Besonders hartnäckig hält sich die Legende, dass
Hattie Bess
alle IOU`s in einer Zigarrenkiste
hinterm Tresen aufbewahrte, I owe you, also die
Schuldendeckel der klammen Künstler, und am Ende
eines Jahres kamen jene vom Ryman rüber, die es
mittlerweile geschafft hatten, und sie lösten
ihre Kollegen aus. Mom Bess war außerdem Sängerin
und Comedian und mit Big Jeff & The Radio
Playboys auf Tour, und zur Vervollständigung
heiratete Bess diesen Big Jeff, und gemeinsam
nahmen sie zwei Hits auf.
„The wettest shoulders
in town“ und „What`s Tootsie`s gonna do when they
tear the Ryman
down?“
Diese Frage bekam sie schon zu Lebzeiten
beantwortet, denn als die Grand Ole Opry
abwanderte, stand auch das Ryman meistenteils
leer, bis zur Renovierung 1994.

Vor zwei Jahren feierte Tootsie`s Orchid Lounge
sein 50jähriges Jubiläum, und kürzlich schauten
Kris Kristofferson und Patsy Cline vorbei,
ebenfalls zu Werbezwecken.
2008 bekam die ehemalige Spelunke eine
„Zweigstelle“, Tootsie`s eröffnete in Florida
eine weitere Musikkneipe, genauer, Panama-City am
Pier Park.
Hattie Louise Bess starb ein Jahr bevor ich in
Nashville den Laden das erste Mal betrat, im
Februar 1978. 62jährig. Ihre Gebeine liegen
irgendwo am Woodlawn Memorial Park. Manche
Legenden werden vergessen.

Fotostrecke: hier