Eine Frau wie sie im Buche steht. Und wenn sie tatsächlich in einem Buch zu finden wäre, würde ich sie anstreichen. Rot oder Schwarz. Wie ich das immer mit schönen Sätzen mache. Aber sie steht in keinem Buch, sie steht nicht mal vor mir, sie macht sich rar. Mit der Postkutsche bräuchte ich gut zwei Wochen um sie zu erreichen. Bestimmt will sie mich gar nicht sehen, und doch gehe ich fast täglich die Gasse runter zum Telegraphenamt. Der Stationsvorsteher hat seinen Laufburschen angewiesen mich sofort zu benachrichtigen, sobald eine Depesche von ihr eintreffen sollte.
„Haben Sie ein Kabel für mich?”, frage ich fast täglich. Der Vorsteher schaut kaum vom Morseapparat hoch und schüttelt seinen Kopf. Vorausgesetzt, er sitzt vor dem Morseapparat und nicht nebenan in der Wirtschaft. Dorthin gehe ich nicht, lieber schaue ich dem Burschen zu wie er die Stube fegt und weise ihn an Tee zu kochen. “Erwarten Sie Nachricht von ihrer Dame?”, fragt er genauso rituell wie ich den Vorsteher nach einem Telegramm frage. Natürlich macht der Junge einen schlechten Tee - entweder kann er es nicht besser, oder er hat Angst ich würde die kleine Schachtel mit den Kandisstücken in meiner Rocktasche lassen. Deshalb hole ich die Schachtel hervor und ermuntere ihn zuzugreifen. Anschließend süße ich den Tee. Dann nehme ich auf dem Schemel neben dem Ofen Platz. Der Junge ist 13 Jahre alt, er will später mal Telegraphist werden. Er ist ein Waisenkind. Vom Pfarrer hörte ich, dass seine Mutter von einem Bonvivant aus der Stadt geschwängert worden war, und sie hatte das Kind gleich nach der Geburt ins Armenhaus gegeben. Der Stationsvorsteher Eduard nahm ihn vor einem halben Jahr zu seinem Laufburschen. Eigentlich ist nicht viel zu tun, den Luxus eines Telegraphenamtes können sich noch nicht viele Menschen leisten, das Dorf ist eher arm. Ich gehöre da schon zur begüterten Schicht, obwohl ich nur eine bescheidene Apanage beziehe. Die jungen Mägde und Hausfräuleins schauen mir öfter verstohlen nach, weil ich für jedweden Anlass meinen besten Rock anziehe, und erst recht, wenn ich die Gasse runter zum Telegraphenamt gehe. Ich verbreite, ohne es zu wissen, den Flair der vornehmen Gesellschaft, von dem die Menschen hier nur etwas ahnen. Sie kenne nur die Geschichten und Gerüchte der Hauptstadt, die Anekdoten. Ihr Leben ist auf diesen kleinen Fleck Erde reduziert. Neuigkeiten, wenngleich gepaart mit Missmut, bringen lediglich die Besuche des Steuerinspektors. Abwechslung entsteht durch die üblichen Anlässe wie Geburt, Hochzeit, Tod und Erntedankfest. Auch davon halte ich mich fern. Es hat sich rumgesprochen, dass ich seit einem Jahr auf Nachricht von einer vornehmen Dame warte. Er ist so schrecklich verliebt, tuscheln die Mädchen im heiratsfähigen Alter hinter der Hand, während es ihre Mütter längst aufgegeben haben mich einzuladen und zu verkuppeln. Sie kennen mein Geheimnis nicht, sie halten mich für einen verarmten Adligen, der sich Tusche und Feder aus der Hauptstadt kommen lässt. Natürlich kriegen der Stationsvorsteher Eduard und sein Bursche Kaspar mit was ich an die weit entfernte Dame so schreibe. Einmal die Woche bringe ich einen langen Brief zur Station, den Eduard der vornehmen Dame kabelt. Dann dauert es keinen Tag, bis es das ganze Dorf weiß. Sie halten mich deshalb für mondän, weil ich einer der Wenigen bin die Lesen und Schreiben können. Kaspar will unbedingt Lesen und Schreiben lernen. Und das muss er auch. Sonst kann er seine Karriere als Telegraphist gleich vergessen. Ich wohne bei einem alten Ehepaar zur Miete. Er war früher bei der königlichen Armee und bezieht eine kleine Pension. Ihr Sohn fiel im letzten Krieg. Sie haben mir die drei oberen Stuben hergerichtet. Eine benutze ich als Schreibzimmer, in der anderen empfange ich, und das dritte Zimmer ist mein Schlafgemach. Sie haben sich daran gewöhnt, dass ich Nachts öfter den Stuhl vom Tisch rücke und aufstehe und eine neue Kerze hole. “Eine Frau ist wie ein Pferd”, sagt der alte Mann jedes mal zu mir, wenn ich runter zum Telegraphenamt gehen will, “man muss es nur einreiten, dann kommt es auf den Pfiff.” Diesmal mache ich mich gegen Mittag ausgehfertig, ich habe wenig geschlafen und einen langen Brief geschrieben. Es ist fast Herbst, das Wetter wird schlechter, in vier Wochen feiern wir Erntedank, dann muss ich mich entschieden haben zu fahren oder nicht. Ab Mitte Oktober ist der Pass offiziell gesperrt. Ich würde gerne noch dieses Jahr zu ihr fahren. Eduard isst zu Mittag im Gasthof. Kaspar kommt gleich und nimmt mir Hut und Stock ab. Er entschuldigt sich dafür, dass für mich nichts gekommen sei, aber es könne jederzeit etwas eintreffen, schließlich sei das ein Telegraphenamt. Er rückt mir den Schemel zurecht und guckt angestrengt auf den Morseapparat. “Lass es gut sein”, sage ich, “mach uns Tee.” Ich will warten bis Eduard aus der Schänke kommt, um ihm meinen Brief zu diktieren. Der Junge kocht schlechten Tee, das heißt, er wirft einfach zu wenig Blätter hinein. Nun, er kann nichts dafür, er ist zum Sparen angehalten, wie ich kürzlich erfahren habe. “Mit dem Herrn Stationsvorsteher wird es noch eine Weile dauern”, sagt Kaspar und steckt sich ein Stück Kandis in den Mund. “Ich weiß.” Wir sitzen schweigend neben dem Ofen, plötzlich tickert der Morseapparat. “Mein Herr”, schreit Kaspar, “das ist für Sie. Ich hole den Stationsvorsteher.” Ich kann es mir vorstellen. Mein Herz pocht. Ich spüre es deutlich durch meine Weste. Der Junge stürmt raus und gleich darauf stürmen er und Eduard wieder rein. Eduard setzt sich und betätigt den Apparat. Tak, ,tak, tak. Kurz darauf hören wir die Antwort: tak, tak, tak. Eduard schreibt es auf. Er zieht die Stirn in Falten, schaut zu uns rüber und sagt: “Das war vom Bezirksamt, die Telegraphenleitung wird abgeschaltet. Tut mir leid, Herr.” Es dauert eine Weile, bis wir alle drei den Gehalt dieser Worte begreifen. Ich überlege, ob ich den Brief per Kurier aufgeben soll. “Sofort abgeschaltet?”, frage ich. “Sofort, mein Herr.” “Also lassen Sie zum Bezirksamt schicken und eine Depesche anfordern”, sage ich, “jener Brief muss nach Turin und ich brauche Antwort bis nächsten Monat.” Ich übergebe ihm den Brief und fertige ein Begleitschreiben an. Eduard geht rüber zur Poststelle. Das kann dauern. Kaspar schaut mich fragend an. Er weiß noch nicht, dass die vom Bezirksamt nur deshalb abschalten, weil sie in die eigene Tasche wirtschaften. Das haben die schon letzten Winter gemacht, als ich angekommen bin. Diesmal scheinen sie den Sommer über auf großem Fuß gelebt zu haben. Wie auch immer, die Depesche könnte meine letzte Chance für dieses Jahr sein, ich müsste spätestens Mitte Oktober aufbrechen. Vorausgesetzt, ich kriege von der Dame eine positive Antwort. Dabei habe ich sie lange Zeit hingehalten. Als ich noch in der Stadt lebte. Dort, wo das Bezirksamt steht. Ich lernte Eleonore während meines Italienaufenthaltes kennen. Bei Hof. Ich war auf der Stelle verliebt. Sie war die Gouvernante des Königs. Sie wollte gleich, dass ich dableibe. Aber ich hatte meine Geschäfte zu ordnen. Wieder zurück daheim fing ich eine Liaison mit der Tochter des Bischofs an. Währenddessen schrieb mir Eleonore glühende Liebesbriefe, die ich nur halbherzig beantwortete, denn Turin ist weit. Doch eines Tages erwischte mich der Bischof in flagranti. Ich floh bei Nacht und Nebel und landete hier in diesem Dorf. Seitdem schicke ich jede Woche ein Kabel nach Turin und hoffe auf Antwort. Ich würde am liebsten ohne ihre Einladung anspannen lassen und zu ihr fahren, aber dann würden mich die Schergen des Königs gleich hinter der Grenze verhaften. Und das nur, weil die Königin mein Kind unter ihrem Herzen trägt. Ich hoffe, Eleonore wird dem Geschwätz einer verblühten Frau kein Glauben schenken - auch eine Königin wird älter. Ich liebe nur sie, geistig sind wir schon lange vereint; solche und ähnliche Liebesschwüre bekommt sie wöchentlich gekabelt. Ich kann nichts anderes mehr denken, und sie zu sehen bedeutet Gefahr. Ich kämpfe täglich gegen den Drang der Dorfschönheiten. Bislang gelte ich als Asket. Oder anders, sie denken, wie das Schmelzwasser der Gletscher den Fluss hinunterfließt, so strömt meine Liebe die Alpen hinab und überschwemmt das Herz einer Dame aus Turin. Meine bescheidene Apanage habe ich dem russischen Zar zu verdanken. Das war ein Mann von Welt. Er hat mir, um einen Affront zu vermeiden, eine lebenslange Rente angeboten und im gleichen Atemzug habe ich die Aberkennung der leiblichen Vaterschaft unterzeichnet. Ich würde auch gerne nach Russland reisen, doch der Hinderungsgrund ist derselbe wie der, der mich vor Italien abhält. Fürwahr, es ist eine vermaledeite Situation. “Ihre Dame kommt sicherlich nach ihnen schicken”, sagt Kaspar, “wenn sie nicht mehr kabeln. Aber dafür können Sie nichts”, fügt er hinzu. Meine Eltern haben mich streng katholisch erzogen. Gleich nach dem Internat habe ich studiert - und eine Frau Professorin in andere Umstände gebracht. Daraufhin schickte mich mein Vater zum Militär. Dort blieb ich, bis die Liebschaft mit der Frau des Herrn Major rauskam. Sicher kann ich nichts dafür, denke ich, der Ofen ist schon eine angenehme Sache. Draußen kommt ab und zu die Sonne hervor. Ansonsten ist es bewölkt. Die letzten Felder werden eingeholt. Bei der Einweihung wurde das Telegraphenamt groß gefeiert. Ich erinnere mich. Kaspar stand ganz vorne und hörte die erste Nachricht. Es ist fast ein Jahr her. Ich war gerade erst angekommen und hatte aus verständlichen Gründen nur meinen Schlafrock an. Mein Gepäck reiste hinterher. Die Frau des Großbauern rempelte mich an und meinte, ich solle mit meinem Balg mal Platz machen. Heute ist sie ladylike, wie man im entfernten Britannien sagt. Kleider machen Leute. Eduard freut sich über jedes Telegramm das ihm Gesprächsstoff bietet. Im Gasthof reden sie täglich darüber, wie verliebt der Herr aus der Stadt ist. Deshalb meide ich öffentliche Plätze. Meine Hauswirtin kocht exzellent. Ihr Mann, der Kriegsveteran, ist hinsichtlich seiner Manneskraft schwerbeschädigt. Ich überlege dauernd, ob ich mich darum kümmern soll. Doch der Mietzins ist für meine Verhältnisse gering. Wenn Eleonore auch die Depesche unbeantwortet lassen sollte, werde ich Erntedank im Kreise des dörflichen Lebens feiern. Kaspar fragt mich wie man es merkt, wenn man verliebt ist. “Alles wird anders; du stehst lächelnd auf und pfeifst eine Melodie, dein Spiegelbild lächelt ebenfalls und du schneidest dich nicht beim Rasieren, die Frühstückssemmel sind warm, dein Rock ist ausgebürstet und draußen scheint die Sonne und selbst deine Gläubiger lassen dich in Ruhe.” “Dann sollte man immer verliebt sein.” Ich betrachte sein Profil. Es gefällt mir. So habe ich früher auch dreingeschaut. Er hat etwas, diesen leichtlebigen Blick, das Verlangen in seinen Augen. Seine Eltern kenne er nicht, ich müsse den Pfarrer fragen, sagt er, nachdem ich gefragt hatte, wo er geboren wurde. Nun ja, die Geschichte des Pfarrers kenne ich, nur meine eigene Geschichte macht mir Schwierigkeiten. Gleich nach dem Militär schickte mich Vater ins Ausland. Zuerst nach Ungarn, dann nach Polen. Nachdem er sein Geschäft bis nach Russland ausgeweitet hatte, und ich leidlich Russisch sprach, wurde ich Leiter des russischen Kontors. Nach der Geschichte am Zarenhof beorderte mich Vater nach Übersee. Ein Fauxpas, den ich mir vor der mexikanischen Krone leistete, veranlasste Vater zu meiner Rückbeorderung. “Du hast Recht Kaspar, man sollte immer verliebt sein.” Er hält seinen Mund halb offen und wartet darauf, dass ich mehr erzähle. Und weil ich verliebt bin und Eduard Stunden brauchen wird - denn er macht immer den Umweg übers Wirtshaus - und weil ich einfach nicht weiß ob ich mein Herz in Ungarn, Polen, Russland, Mexiko oder Italien verloren habe, erzähle ich Kaspar meine verworrene Geschichte. Zum Schluss sagt er nur: “Das muss der Herr aufschreiben - damit es ihre Kinder mal lesen können.”